Der Festivalblog von Manfred Jahnke
07.02.2024
Festivaleröffnung mit starken Themen
Was für ein Start in die dreizehnte Ausgabe des Festivals Panoptikum! In den Festreden der Nürnberger Kulturdezernentin Julia Lehner, der ASSITEJ-Vorsitzenden Jutta M. Staerk und der Festivalleiterin Andrea Maria Erl ging es um ähnliche Themenbereiche: die Wichtigkeit eines Theaters für ein junges Publikum, die bedrohliche (welt-)politische Krisenlage, die finanzielle Untersubvention der Theaterkünste und um die einmalige Situation, die in Nürnberg gegeben ist. Was Theater für ein junges Publikum kann, zeigte dann das gastgebende Theater Mummpitz in seiner Koproduktion mit der Cie. Gare Central aus Belgien und der ADK Bayern aus Regensburg. Agnès Limbos, die Regisseurin, hält in Europa eine Spitzenposition wenn es darum geht, kleine Gegenstände – Plastikfiguren, kleine Häuser – im Spiel zu animieren. Was zunächst wie ein Spiel von (erwachsenen) Kindern mit kleinem Spielzeug daherkommt, wird plötzlich zu Handlungen zwischen Erwachsenen.
In ihren Produktionen entwickelt Agnès Limbos immer neue Variationen zu diesem Grundthema. In „Memories“ sind am Anfang vier quadratische, rollbare Tische zu sehen, auf denen Requisiten ausgestellt sind wie eine Tasse, ein Vogel, eine Kaffeedose oder ein röhrender Hirsch aus Porzellan. In diesen Requisiten verbergen sich die Geschichten von Menschen, die in Szenen mit einfachen Mitteln erzählt werden, eben die „Memories“. Es sind nicht immer gute Erinnerungen – z.B. bei dem Untergang der Titanic. Aber verblüffend ist, mit welcher Leichtigkeit das Ensemble ihre Geschichten spielt und dabei ganz große Emotionen beim Publikum entstehen, weil erst durch die Leichtigkeit eine Rezeption der eigentlich traurigen Erinnerungen positiv möglich wird.
Toll, wie dieses Ensemble sich ergänzt, zu einem spielerischen Flow findet und dabei einen genauen Spielrhythmus einhält. Schaurig schön ist das, was Michael Bang, Lennart Gottmann, Christine Mertens, Zoé Neve und Sabine Zieser auf die Bühne bringen. Jede(r) dieser Darsteller:innen spielt ihre Rollen leicht karikierend und doch so, dass man als Zuschauer emotional ergriffen wird. Toll! Ein toller Start in die dreizehnte Ausgabe von „Panoptikum“.
08.04.2024
Große Kunst aus Frankreich
Am zweiten Tag des Festivals „Panoptikum“ habe ich drei verschiedene Gruppen aus Frankreich gesehen. Um es vorweg zu nehmen, alle drei Inszenierungen entwickelten eine Magie, die mich fesselte und die mit ihren ästhetischen Konzeptionen überzeugten.
In „Un ocean d’amour“ führt die Cie. La Salamandre das Publikum in die Welt eines Archivs. Zwei Männer in grauen Arbeitskitteln bauen beim Einlass und weit darüber hinaus eine Menge an Papierschiffen. Während Samuel Lepetit die Schiffe faltet, geht Christophe Martin mit einem roten Roller über das Material, entfaltet dann das so gewalzte Papier zu einem Schiff. Dafür erhält er jeweils einen anerkennenden Blick von seinem Partner, der ihn kurz anlächelt, bevor es in die nächste Produktion eines Papierschiffes geht: ein eingespieltes Team, das sich vertraut und in seinem Archiv wohl fühlt. „Un ocean d’amour“ arbeitet auf der schauspielerischen Ebene mit zarten Momenten einer Clownskomik, auf der Ebene des Materials mit allen möglichen Formen des Papiers. Da werden die Schiffe immer kleiner, das Meer besteht aus Papierbahnen, die man wegziehen kann. Ein Ozeanriese erscheint als großes gemaltes Bild in einer Dokumentenmappe, ein geheimnisvolles Schiff wird aus dunkler Pappe aufgeklappt. Selbst die Umweltverschmutzung des Meeres wird mit alten, brüchigen Papiermassen dargestellt.
Die eigentliche Handlung ist rasch erzählt. Monsieur fährt jeden Morgen zum Angeln, doch der Motor – lautmalerisch toll von Christophe Martin unterstützt – fängt an zu stottern und fällt ganz aus. Ein merkwürdiges Schiff fährt über sein Boot. Währenddessen wartet Madame. Auf der Suche macht sie auf einen Ozeanriesen eine Reise nach Kuba. Ihr Mann hat das Schiffsunglück überlebt, der Motor springt wieder an und er kehrt in ein leeres Zuhause zurück. Als Madame von der Reise zurück kommt, renkt sich alles wieder ein. Diese Geschichte ist entwickelt nach einem Comic von Grégory Panaccione und Wilfried Lupano, die von einer Odyssee in der Gegenwart erzählt. Zusammen mit ihren grandiosen Schauspielern mit ihrer präzisen Komik entwickelt Anne Raimbault in ihrer Regie eine anrührende Geschichte mit zwei Flachfiguren (Monsieur und Madame) und vielen Schiffen aus Papier. Was besonders fasziniert am Spiel von Lepetit und Martin ist, wie sie untereinander Blickkontakt halten und gleichzeitig zu ihrem Material, das sie animieren. Toll gemacht.
Auch in der Aufführung „All die kleinen Dinge“ der Cie Blabla Production sind von Band Meeresrauschen und Möwenschreie zu hören. Das Ambiente des Bühnenbilds erinnert an Strandgut , da sind nach vorne die aufgeschichteten Steinfiguren, ausgebleichte Äste liegen herum, eine Schaukel mit ihrem Gerüst (Bühnenbild: Sébastien Rocheteau und Fabian Coulon). Daneben gibt es aber auch einen Koffer, Kannen oder eine Vase mit einer weißen Blume. Am Anfang nimmt Fabian Coulon, der nicht nur spielt, sondern sich auch für Konzept und Regie verantwortlich zeigt, die Blume und tanzt mit ihr zu einer wunderschönen Opernarie. In seinen Bewegungen mit der weißen Blume erinnert Coulon an Marcel Marceau.
Dieser tänzerischen Pantomime am Anfang folgen dann Aktionen, die an Materialtheater erinnern. Mit festem Seifenschaum zaubert er Figuren, wie beispielsweise ein kleines Mädchen, das auf der Schaukel sitzt. Coulon bewegt sich tänzerisch durch den Raum und schafft überall neue Figuren, lässt auch Sand in einem engen werdenden Kreis herabrieseln: Fast alle Dinge, die im Raum sind, werden angespielt, geformt, auseinandergenommen und neu performt. Es entsteht dabei eine Bilderflut, die mit immer neuen Überraschungen arbeitet, bis er am Ende das Spiel mit der weißen Blume wieder aufnimmt. Manchmal hätte ich mir ein Innehalten gewünscht, gewünscht, dass ein Bild auch einmal länger für sich stehen bleibt. Fabian Coulon reißt einen mit. Und, wie er mit dem Seifenschaum zaubert, schafft starke poetische Momente.
Aus dem Staunen komme ich auch bei „Fast im Nichts“ der Cie Manie nicht heraus. Am Anfang wird eine Sequenz immer wiederholt, ein Mann schlägt auf einem Tisch ein Tuch aus, holt aus einem geheimnisvollen Untergrund Teller, Becher, Teelöffel und eine Trinkflasche hervor, die zugleich wieder im Black verschwinden. Die Wiederholungen werden hektischer, plötzlich taucht ein Jonglierball auf, die Gestalten hinter dem Tisch verändern sich, ein junger und ein älterer Mann tauchen auf, vereinen sich und lösen sich wieder auf: Es geht hier um einen Mann in den besten Jahren, gespielt von Vincent Regnar, der plötzlich in eine Lebenskrise gerät, der im Augenblick weder seine Vergangenheit reflektieren kann noch Zukunftsträume hat.
Aber nun sind sie da, die drei Lebensphasen, aufgespalten in drei Figuren: den stürmischen jungen Mann (Tom Neyret), den gegenwärtigen orientierungslosen (Vincent Regnar) und den Älteren, dem Joel Colas die Züge eines altersweisen Clowns gibt. „Fast im Nichts“ arbeitet dabei mit den Mitteln des neuen Zirkus: Akrobatische Nummern, Jonglage, die Arbeit mit dem Ring oder Balanceakte bestimmen die ästhetische Form, die eine gelungene Verbindung mit einer überzeugenden Handlungsdramaturgie eingeht – was bei Aufführungen des Neuen Circus selten ist. Während der Mittlere vor sich zu fliehen versucht, stiften ihn die anderen zum Mittun an, Neyret z.B. zum Jonglieren mit Bällen, was Regnar immer noch besser kann. Wunderbar auch der Hilflosigkeit von Colas zuzusehen, wenn er sich im Reifen drehen will, aber erst einmal seinen Bauchspeck entdeckt. Dass ist mit Humor und leiser Selbstironie gespielt. Agnès Célérier arbeitet in ihrer Regie mit überraschenden Einfällen, da verschwinden Jugend und Alter samt den vielen Mänteln des Seniors in einem großen Sessel und der Mittlere findet wieder zu seinen akrobatischen Nummern. Diese werden durch die harten Beats – es gibt auch melodiöse Musikstrukturen -, die das Trio Pierre Olivier Fernandez, Adrien Desse und Thomas Loyer geschaffen hat, vorangetrieben.
Ein Abend voller Zirkus, Dramatik, Gefühle und Poesie – was will man mehr? Das gilt auch für die beiden anderen Inszenierungen. Ein toller Festivaltag.
08.02.2024
Grandioses Schattentheater
Was Sarah Chaudon und Clara Palau y Herrero vom Tangram Kollektiv in „Schattenwerfer“ aufführen, ist Schattentheater vom Feinsten. Zu Beginn der Vorstellung hocken sie am Boden und weisen das junge Publikum freundlich darauf hin, dass es in der Vorstellung Dunkel gibt, aber es auch wieder hell werden würde. Dann setzt sich Sarah Chaudon an ein kleines Harmonium und Clara Palau y Herrero sitzt an einem Tisch mit einer Ständerlampe, einer Kanne und einem Becher. Der kleine Spielraum ist von drei weißen Wänden begrenzt. Im Strahl eines Lichts bekommen die Gegenstände ein Eigenleben, hinter der Wand wird alles größer, bis am Ende sich die Objekte verselbständigen und sich von ihren Spielführerinnen ablösen.
Die beiden Spielerinnen spielen mit allen Mitteln des Schattentheaters. Sie spielen mit den unterschiedlichen Größen zwischen dem, was vor den Wänden geschieht, und dem, was hinter den Leinwänden stattfindet. Im Lichtkegel kleiner Lichtquellen wie Stabtaschenlampen entstehen immer neue Möglichkeiten. Da tanzen die Tassen hinter der Leinwand in der Luft, drohen abzustürzen, fangen sich im nächsten Moment ab, während vorne die Tasse ganz ruhig auf dem Tisch steht. Aus einem der Becher wird eine schmale, gummiseilartige Figur gezogen, die von beiden Spielerinnen über den Tisch geführt wird und sich immer wieder dehnt. Gerne arbeiten dabei beide mit den Formen einer Spiegelpantomime, die gleich wieder gebrochen wird. Da führt vorne Clara Palau y Herrero ein Spiel mit dem Teelöffel vor, den aber Sarah Chaudon hinter der Leinwand zu einem Fisch, dann zu einem Flugzeug verwandelt.
Es sind diese überraschenden Wendungen, die diese französisch-deutsche Koproduktion auszeichnen. So verdreifacht sich einmal das Bild einer Spielerin durch einfache Fingerbewegungen: Sie macht das virtuos, mit einem kindlichen Staunen, das sich nicht nur auf das junge Publikum überträgt. Wenn am Ende um eine große runde Lichtquelle, eine kleine kreist, sich dann ablöst und durch den Raum schwebt, da fühlt man das Universum. Einfach grandios, was die Beiden vom Theater Tangram Kollektiv mit ihrer starken Ausstrahlung machen.
09.02.2024
Können Deine Tränen schlafen?
Zu „Ein Bettchen von Trost“ von Hanneke Paauwe und Het Lab
Hanneke Paauwe ist eine wunderbare Theatermacherin. Eine ihrer Stärken sind poetische Installationen, die das Publikum aktiv miteinbinden. Dazu sucht die Künstlerin Räume, die nicht unbedingt Theaterbühnen sein müssen. In Nürnberg hat man einen großen Saal im MAXI.kunst, einem ehemaligen Sparkassengebäude, das mittlerweile unter Denkmalschutz steht, gefunden.
Wenn man durch eine kleine Türe mit einem wehenden Vorhang den Raum betritt, erklärt Hanneke Paauwe jedem einzelnen Besucher die Spielregeln, wie er sich durch den Raum bewegen kann und gibt jedem eine Taschenlampe mit auf den Weg. Der Raum ist halb in Dunkel getaucht, wenn der Betrachter einen Gegenstand oder einen beschriebenen Zettel genauer studieren möchte, dann bringt er die Schrift im Lichtkegel der Lampe zum Lesen. Schon der erste Blick beim Einlass zeigt eine faszinierende Vielfalt. Gleich am Anfang winkt ein Feld von hohen Graspflanzen, woran Zeichnungen hängen, in denen Kinder ihre Lieblingsmenschen oder -tiere aufgemalt haben. Darüber schweben engelhaft weiße, durchsichtige Plastik-Capes.
Paauwe ist eine Konzeptkünstlerin, die mit Fragen wie „Wie lange hält Traurigkeit an?“, „Können Deinen Tränen schlafen?“ oder „Wenn der Tod ein Mensch wäre, den ihr alles Fragen könntet, was würdet Ihr wissen wollen?“ ihr Publikum zur aktiven Teilhabe auffordert. Sie ordnet Fragen jeweils einzelnen Stationen des von ihr gestalteten Parcours zu. Das Zentrum beherrscht das Feld der Graspflanzen, dazu hängen Zweige im Raum. An zwei Seiten des Raums sind fünf „Boxen“ angeordnet. Die erste wird dominiert von einer golden ausgeschlagenen Liege, daneben ein Tisch, auf denen zwei alte Schreibmaschinen stehen, auf denen das Publikum eigene Seiten tippen kann über Erinnerungen an eine tote Person. In der nächsten Abteilung laden Bauklötze und ähnliches Material zum Bauen ein. Die anderen „Boxen“ sind sehr poetisch gestaltet, da hängen farbige Glasdekorationen, auf Borke liegt eine Art Kondolenzbuch oder Murmeln sind auf dem Boden verstreut, während dunkelgefärbte Glasscheiben u.a. mit Kinderporträts auf Notenständern liegen. Überall auch hängen DIN-A-4-Zettel mit Fragen, die auf dieser Station zur Diskussion gestellt werden, und viele Zettel, auf denen Kinder wie Erwachsene ihre Antworten notiert haben.
Auf der rechten Seite lädt erst einmal eine Installation mit erleuchteten Flaschen ein, über denen weiße Tücher schweben. Daneben werden auf eine große Leinwand Baumlandschaften projiziert. Darunter kann sich das Publikum auf fünf flachen Liegen ausruhen und auf einer weiteren Station seine Eindrücke handschriftlich notieren. In einem Nebenraum, der von einer Glocke dominiert wird, liegen viele Zwiebeln auf den Boden und in großen Glasgefäßen verschiedene Essen. Zwiebeln waren einmal Symbol für die Ewigkeit. In der letzten Abteilung wachen zwei von Efeu umschlungene Räume aus Gummistiefeln. Das Tolle an dieser Installation ist, dass man alle diese Bilder in sich aufnehmen und genießen kann, zumal sie etwas Ritualhaft-Geheimnisvolles haben – und einfach schön sind. Diese Schönheit ist umso reizvoller, wenn man das Angebot zur Teilhabe annimmt. Bedeutet diese Aktivität doch ein Innehalten, eine Chance über Tod und über das Leben nachzudenken.
Hanneke Paauwe ist das Kunststück gelungen, ihr Publikum mit einem tabuisierten Thema – den Tod – zu konfrontieren und es gleichzeitig mit großer Leichtigkeit zu einer eigenen Auseinandersetzung mit diesem Thema zu verführen. In der Tat hat diese Installation auch etwas Tröstliches, wie der Titel verspricht: „Ein Bettchen von Trost“.
09.02.2024
Wenn die Welt grün wird
Klaipeda Puppet Theatre/Item Ensemble: The Big Bang
Unsere Gesellschaft erstickt an Elektro- und Computerschrott. Einiges wird aufbereitet zu neuem Material, vieles aber wird zum Müll, der immer mehr die Erde überzieht und Lebensräume einschränkt. Die Macher vom Klaipeda Puppet Theatre aus Litauen haben eine Antwort: Sie verwandeln in ihrem Objekttheater Stück „The Big Bang“ Elektromüll zu einem faszinierenden Spielmaterial. Der Raum von Ausra Bakanaité wird von einer großen Leinwand dominiert. Markanter aber sind große E-Schrottinseln links und rechts, sowie eine kleine in der Mitte. Per Livevideo (Kestutes Bruckus) werden die kleinen Aktionen auf der Leinwand groß ausgestellt.
Detailverliebt bauen Monika Mikalsuskaité-Bauziené und Vytautas Kairys zunächst aus einem Kabelsalat kleine Figuren, die sich bekämpfen müssen. Erst dann beginnt die eigentliche Geschichte: Ein Roboter aus Kabeln und einem Kopf aus einem quadratischen elektronischen Bauteil - ich bin kein Computerfreak, da fehlen mir die Fachausdrücke – und einen aus einer Batterie gebauten Hund – wandern durch das Universum. Aus den Schalttafeln der Computer entsteht aus der Luftperspektive eine Stadt mit rauchendem Meiler, Wohnhäusern und Fabriken, die, obschon im Video alles täuschend echt aussieht, ausschließlich aus Ankerspulen, Modulen und anderen elektronischen Bauteilen besteht. Da kommt das Publikum nicht aus dem Staunen heraus. Und, obwohl das Ensemble in seinen Dialogen Litauisch spricht, hat man durch die starken Bilder das Gefühl, alles zu verstehen.
Die Regie von Zvi Sahar erfindet für diese Reise von Roboter und Hund immer neue Situationen. Dazu hat Kobe Shmueli eine dramatische Musik komponiert, die mit Filmmusikthemen spielt. Der Wechsel von Spielorten wird derart vorbereitet, wenn der Hund in ein Loch fällt und sich in einer unbekannten, dunklen Welt bewegen muss, bis er sein Roboterherrchen wieder findet. Dann passiert die Katastrophe: es beginnt zu regnen. Wie sollen sich Metalle und Module schützen? Keine Sintflut kommt, sondern die Welt wird überwuchert vom Grün, in dem der E-Schrott verschwindet. Wenn es denn so einfach wäre! Anregend ist „The Big Bang“ allemal. Die Kreativität der Macher im Umgang mit ihrem Material regt zu eigener Aktivität an.
09.02.2024
Von der Wichtigkeit einer Haltung
Zu Theater Sgaramusch: Rosa
Der szenische Raum hat den Charakter eines Spielzimmers. An Garderobenteilen hängen die verschiedensten Puppen, kleine und große, ein Plüschhund auch, der später als Katze angespielt wird. Über diesen thront an einer langen Stange eine weiße Taube, die leitmotivisch durch das Stück geführt wird. Ein Pappschloss mit zwei Zinnen für die Kaiserburg, das noch einmal kleiner im Bild erscheint, markieren herrschaftliche Atmosphären. Das Plattencover von Chopins Sämtliche Klavierwerke verdeckt eine kleine Ton- und Lichtanlage. Und vorne fast am Bühnenrand steht ein Plastikeimer, der die Spree in Berlin symbolisiert, der Fluss, in den die 1919 ermordete Rosa Luxemburg – in der Inszenierung symbolisiert durch ein Tuch - geworfen wurde.
„Rosa“ der Schweizer Gruppe Theater Sgaramusch erzählt die Geschichte der Rosa Luxemburg (1871 – 1919). Wer bei Wikipedia über diese politische wie sensible Frau nachschlägt, erstickt schier an der Vielfalt der Informationen. Von daher ist die Entscheidung des Ensembles nachzuvollziehen, sich auf die Kindheit und auf die Züricher Episode ihres Studiums und die Freundschaft zu Leo zu konzentrieren. Um es für Kinder ab fünf Jahren eindrücklich zu erzählen, wird im Spiel Haltung gefordert: Es geht um ein junges Mädchen, das sich mit den Ungerechtigkeiten in der Welt nicht abfinden will. Trotz aller drakonischen Strafmaßnahmen lässt sie sich nicht einschüchtern und erhebt ihre Stimme. Das wird in den verschiedenen Situationen vorgeführt, im Polen ihrer Kindheit, in Zürich, in Berlin. Letztendlich bleibt sie bis zum Schluss das kleine Schulmädchen, das die Aufteilung der Welt in Arm und Reich, sowie den Unterschied von Gerechtigkeit und Recht nicht akzeptieren will und kann.
Nora Vonder Mühll und Stefan Colombo wählen zusammen mit der Regie von Corsin Gaudenz die klassische Form des Erzähltheaters. Dessen Strukturen werden bis hin zur Publikumsbefragung „Was ist Dir wichtig?“ im Spiel vorgeführt. Historisch sind Erzähl- und Figurentheater eine enge Verbindung eingegangen – wie in „Rosa“. Rosa und Leo sind Klappmaulpuppen, die größer als die anderen Figuren sind (mit Ausnahme des Hundes als Katze): Der Kaiser ist eine Handpuppe, wie man sie aus dem Kasperletheater kennt, die Proletarier sind Wollpuppen, die in ihrem Kampf auf den Boden geschmettert werden. Weil die Klappmaulfiguren größer sind als die anderen, ziehen sie allen Fokus auf sich. Aber der Kaiser als Handpuppe? Das wirkt trotz des Stimmeneinsatzes von Stefan Colombo verharmlosend.
Nora Vonder Mühll und Stefan Colombo setzen zur Verlebendigung ihres Stoffes viele Mittel ein. Es fliegt die weiße Taube als Friedensvogel, es spielt z.B. Vonder Mühll auf der Trompete die Internationale. Am erzählten Beispiel einer starken Frau versuchen sie ihr Kinderpublikum zu eigenem Handeln zu verführen. Es geht in dieser Inszenierung nicht um die historische Figur, sondern diese möchte die Haltung der Heldin an das Publikum weiterreichen, ermutigen, Fragen zu stellen und darüber nachzudenken, was mir in dieser Gesellschaft wichtig ist. Diese Haltung kann Kindern nicht früh genug vermittelt werden.
10.02.2024
Die Welt - ein Laufband
„Runners“ von Cirk La Putyka
In „Runners“ von Cirk La Putyka aus Prag geht es um Schnelligkeit. Gefühle gibt es einzig im Geschwindigkeitsrausch. Aber innerhalten? Vier junge Menschen – zwei Frauen und zwei Männer – erzählen an Mikrofonen von ihren Flows und Stürzen. Wie mit dem Fahrrad einen steilen Hang hinunter sausen, wie sie im Krankenhaus landen und wieder aufstehen, um weiter zu machen. Dazwischen springen die Vier auf ein Laufband, das sich in unterschiedlichen Tempi bewegt (ein Maschinist steht mit dem Steuerungsgerät mit auf der Bühne), rennen mit und gegen die Richtung des Bandes, kämpfen miteinander, formieren sich zum Schluss hin zu einem Wettkampf: Wer wird die/der Erste?
In der Szenerie von Pavla Kamanová dominiert das diagonal die Bühne querende Laufband. Im Hintergrund sind im Halbdunkel Tische hinter Plexiglaswänden zu erkennen, vorne links stehen vier Mikrofone, der Ort, wo das Ensemble seine Geschichten erzählt, bevor es wieder auf das Laufband springt. „Runners“ hat den Charakter einer Nummernrevue, die durch das Laufband, die um die Geschwindigkeit kreisende Geschichten und die Live-Musik zusammengehalten wird. Grandios was die Violinistin Veronika Linhartová und der Multi-Instrumentalist Jan Čtvrtnik musikalisch draufhaben, von melodisch einschmeichelnden Melodien, bis zum harten Sound einzelner wie Hammerschläge niedersausender Akkorde.
In „Runners“ verbinden sich Musik und Geschichten mit den Mitteln des neuen Zirkus. Mit bewundernswerter Energie und starker Physis demonstriert das Ensemble nicht nur einen schweißauftreibenden „laufenden“ Auftritt auf dem Laufband, sondern darüber hinaus auch noch einzelne akrobatische Aktionen. Während Aneta Bočková als junge Frau in Blau und Šárka Řihová als Frau in Weiß rennen und rennen, führt Jakub Slovák eine Fahrradnummer vor. Ethan Law glänzt mit dem Cyr-Rad auf dem Laufband. Ein starker, ein unterhaltsamer Abend, der an das Publikum eine Frage richtet: Wozu immer rennen? Die Inszenierung von Rostislav Novák Jr und Vit Neznal gibt einen vorsichtigen Hinweis: Der Flow, der dabei entsteht, reißt einen mit – lässt einen auch abstürzen. Wer nicht mithält, muss in einer solchen von Schnelligkeit geprägten Gesellschaft untergehen.
11.02.2024
Ein Dorf ganz weit im Norden
Zu „Angenommen, Du hättest ein tragbares Grammophon“
Es gibt Aufführungen, die sind so zart, so schön, dass einem die Worte fehlen, um sie zu beschreiben. Das trifft um so mehr zu, wenn auf der Bühne ein Ensemble mit starker, ja – ich traue mich kaum, dieses Wort zu benutzen – auratischer Präsenz agiert wie in „Angenommen, Du hättest ein tragbares Grammophon“, eine Koproduktion der dänischen Gruppen Teatret Gruppe 38, Teatret Moellen, Carte Blanche und teater2tusind. Bodil Alling, Peter Seligmann und Connie Tronbjerg sitzen während der gesamten Vorstellung an einem langen Tisch. Nur eine szenische große Aktion gibt es, einmal wird der Tisch hochgefahren (und wieder runter), aber auch da bleiben die Darsteller:innen auf ihren Stühlen hocken.
Worin besteht das Geheimnis? Wenn man mit klassischen Begriffen zu analysieren versucht, dann herrscht die Struktur des Erzähltheaters. In „Angenommen, Du hättest ein tragbares Grammophon“ wird eine Geschichte mit einer ganz eigenen Atmosphäre erzählt. Wenn das Publikum hereinströmt, schauen die Drei es neugierig-freundlich an, dabei haben alle drei die gleiche (körperliche) Haltung. Wenn das Licht im Zuschauerraum ausgeht, beginnt Bodil Alling sich freundlich zuzuwenden: „Stell dir vor, du hättest einen Klumpfuß. Dann könntest Du auf einem Bein stehen und viel höher sehen.“ Es folgen weitere „Stell dir vor“: Unauffällig öffnen die Spieler:innen dem jungen und alten Publikum einen Vorstellungsraum. Deshalb braucht es nur ein paar Bauklötze, um die kleine norwegische Stadt ganz hoch im Norden in einem einsamen Tal gelegen zu symbolisieren.
Alling, Seligmann und Tronbjerg lassen es zu, dass das Publikum sich mit seiner Fantasie die erzählte Welt in Bilder umsetzt. Dabei hilft, dass das Ensemble mit Wiederholungen arbeitet. Nicht nur das „Stell dir vor“ wird leitmotivisch eingesetzt, sondern auch bestimmte Eigenarten der Stadtbewohner werden immer wieder betont: Sie leben von Stockfisch und Bierbrot, sonntags gehen sie zur Kirche und singen, dabei schauen sie immer auf den Boden. In dieser dumpfen Beharrlichkeit lebt die lebenslustige Viola, die bei dem alten Henry mit seinem Grammophon eine andere Welt kennenlernt. Als dieser eines Tages stirbt, steht das Haus leer , bis Madame Lüdh ankommt. Diese ist in einem fernen Land vor dem Feuer geflohen. Sie und Viola freunden sich an, bis Madame, nachdem sie Geld geerbt hat, wieder verschwindet.
Sie kommt mit vielen Paketen zurück. Sie bereitet den Dorfbewohnern ein Festessen aus der Haute Cuisine. Eigentlich haben sich die, die nur von Stockfisch und Bierbrot leben, verabredet, zwar zu erscheinen, aber nicht zu kosten. Aber mit dem ersten köstlichen Bissen schwindet der Widerstand. Auch Integration kann durch den Magen ausgedrückt würden, zumal wenn die Klänge eines Wiener Walzers beschwingen. Dann macht sich Viola auf die Reise in die fremde Welt… Begriffe, wie Integration oder Angst vor dem Fremden werden im von Bodil Alling verfassten Text nicht benutzt. Sie begnügt sich mit der Beschreibung von Handlungen, deren Wertung sie dem Publikum überlässt. Neben der dem Publikum zugewandten Freundlchkeit ist das eine der Stärken dieser Aufführung. In seiner Regie schärft Hans Rönne noch diese Haltung, er lässt die Drei kleine gemeinsam Gesten machen, die genau gesetzt sind. Alling, Seligmann und Tronbjerg lassen das Publikum spüren, dass sie ihre Figuren lieben und ihr Publikum lieben. Ist das das Geheimnis?